TABULA RASA

Mario Erdheim

Psychoanalytisches zum Denkmal 

Denkmale sollten der Erinnerung dienen. Erinnerung ist Vergegenwärtigung von Vergangenem, aber die Frage ist:Wie sollten Denkmalewen anwas erinnern? Sie sollen die Menschen zum Denken bringen und sie so an etwas zwar Vergangenes, aber weiterhin Wirksames und Wichtiges erinnern. Das ist nichts Selbstverständliches, die Psychoanalyse kennt auch eine andere Art der Vergegenwärtigung, die mit dem Denken nichts zu tun hat, und nennt sie «agieren». «Agieren» heisst, unbewusst handelnd etwas Vergangenes zu wiederholen. Nur dann, wenn der Mensch sich denkend erinnert, vermag er dem Wiederholungszwang zu entgehen, vermag er dem Verhängnis Einhalt zu gebieten, immer das tun zu müssen, was sich seinem Verständnis entzieht.

So gesehen, stellen die meisten Denkmale Aufforderungen zum Agieren dar. Kriegerdenkmale zum Beispiel bringen die Menschen meistens nicht zum Denken, sondern fordern sie dazu auf, wieder Kriege zu führen. Auch dort, wo es um Mahnmale geht, fällt das Denken schwer und eine Eigenart der Denkmale kommt zum Vorschein: sie appellieren an das Überich. Eigentlich sind sie nicht, wie schon behauptet wurde, Abkömmlinge des Phallus, sondern eher des erhobenen Zeigefingers. Denkmale sollen den Menschen etwas einschärfen, zum Beispiel die Grösse eines Heerführers, oder sie belehren: Hier fand dieses oder jenes Ereignis statt, oder sie mit einem «Nicht vergessen!» warnen. Das Überich ist eine Instanz, die sich auf keine Einsichten zu berufen braucht, sondern imperativ fordert - es geht nicht ums Denken und Abwägen, sondern ums Befolgen. Musils scharfsinnige Beobachtung, Denkmälern hafte etwas an, was sie unsichtbar mache, und wer mittels eines Denkmals verewigt werde, den stürze man eigentlich ins Vergessen, verweisen ebenfalls aufs Überich. So wie sich die Individuen gegen ein strenges Überich wehren, indem sie es umgehen, so übersehen sie die mahnenden Denkmäler und vergessen das, woran sie erinnert werden sollen.

Diese Denkmale widerspiegeln eine ganz bestimmte Art der Geschichtsbetrachtung, nämlich diejenige, die auf die Fragen von Brechts lesendem Arbeiter keine Antwort gibt: «...Und das mehrmals zerstörte Babylon - wer baute es so viele Male auf? (...) Das grosse Rom ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Über wen triumphierten die Cäsaren?». Aber auch wenn die Denkmäler etwas darüber aussagten, wenn sie die Namen all der Arbeiter oder der niedergeworfenen und ausgeplünderten Völker aufzählten - solange Denkmale Überichmale sind, sind sie auch die Gräber, in welchen das Bewusstsein über die Vergangenheit zum Verschwinden gebracht wird.

Die Selbstreflexiviät, welche die Kunst der Moderne auszeichnet, hatte es am schwersten, sich bei den das Denken so entschieden abweisenden Denkmälern durchzusetzen. Wo es aber gelang, kam es zu wesentlichen Strukturveränderungen, ähnlich wie bei Individuen, die nicht mehr den Befehlen des Überichs, sondern den Einsichten ihres Ichs folgen. Zwar verloren diese Denkmäler ihre Monumentalität - sie sind leise wie die Stimme der Vernunft, schliessen aber dafür das jede sakrale Aura zerstörende Lachen nicht mehr aus. Sie drängen sich nicht mehr auf, sondern verführen durch ihre Rätselhaftigkeit. Sie glätten nicht mehr die Widersprüche, sondern regen mit ihren Paradoxa das Denken an. Sie meiden die Sakralität, die jedes Denken lähmt, und nehmen das Alltägliche auf.

Mario Erdheim




  • Ohne Titel, Radermacher Norbert, Expo 1991
    Ohne Titel
  • Musik für Räume, Fähndrich Walter, Expo 1991
    Musik für Räume
  • Ohne Titel, Daepp Margaretha, Expo 1991
    Ohne Titel
  • Zentralplatz/Place Centrale, Marek Raoul, Expo 1991
    Zentralplatz/Place Centrale
  • Ohne Titel, Frentzel Gunter, Expo 1991
    Ohne Titel
  • Salto al vacio, Angeles Marco, Expo 1991
    Salto al vacio
  • Ohne Titel, Müller Christian Philipp, Expo 1991
    Ohne Titel
  • Ohne Titel, Zäch René, Expo 1991
    Ohne Titel
  • Half history, Ziegler Mel/Ericson Kate, Expo 1991
    Half history
  • Haustafeln, Zumthor Peter, Expo 1991
    Haustafeln
  • Endlose Linie (Zeichnung), Rütimann Christoph, Expo 1991
    Endlose Linie (Zeichnung)
  • WATER SPILLED FROM SOURCE TO USE/ WASSER VERGOSSEN ZWISCHEN QUELLE UND VERBRAUCH7 DE L'EAU REPANDUE ENTRE SOURCE ET CONSOMMATION, Weiner Lawrence, Expo 1991
    WATER SPILLED FROM SOURCE TO USE/ WASSER VERGOSSEN ZWISCHEN QUELLE UND VERBRAUCH7 DE L'EAU REPANDUE ENTRE SOURCE ET CONSOMMATION
  • VOIR MORT, Zaugg Rémy, Expo 1991
    VOIR MORT
  • Selbstbeschreibung – Je ne sais quoi, Gerdes Ludger, Expo 1991
    Selbstbeschreibung – Je ne sais quoi
  • Sans titre, Varini Felice, Expo 1991
    Sans titre
  • Sans titre, Vieille Jacques, Expo 1991
    Sans titre
  • Passage, Verjux Michel, Expo 1991
    Passage
  • Itinéraire des chemins de dérive, Stern Jean, Expo 1991
    Itinéraire des chemins de dérive
  • Invisible, Anselmo Giovanni, Expo 1991
    Invisible
  • sans titre, Perrin Carmen, Expo 1991
    sans titre
  • Ohne Titel, Pozarek Vaclav, Expo 1991
    Ohne Titel
  • Palais des Congrès, Deleu Luc, Expo 1991
    Palais des Congrès
  • Le plongeoir de la Justice / Das Sprungbrett der Gerechtigkeit, Defraoui Silvie & Cherif, Expo 1991
    Le plongeoir de la Justice / Das Sprungbrett der Gerechtigkeit
  • Freigang, Grinspum Ester, Expo 1991
    Freigang