Die 6. Schweizer Plastikausstellung Biel
Alain G.Tschumi
Die Kunst im öffentlichen Raum: Erfahrungen und Gedanken eines Architekten
In Kostenvoranschlägen für öffentliche Gebäude ist es üblich, eine bestimmte Summe für die Kunst freizuhalten, für die «künstlerische Dekoration» wie man so schön sagt und die oftmals mehr schlecht als recht gemacht wird. Ich selber habe, noch vor ein paar Jahren, kurz vor der Fertigstellung von öffentlichen Gebäuden, einige Kunstwerke ausgewählt oder in Auftrag gegeben, die ich für gewisse Plätze oder wohldefinierte Standorte als geeignet befunden habe. Das Resultat ist selten befriedigend. Weder der Architekt noch die Künstler haben das Gefühl einer kreativen Zusammenarbeit und die Bewohner oder Nutzer sind verlegen, weil sie das Kunstwerk, mit dem sie konfrontiert sind, nicht als wesentlichen Teil ihres Lebensraumes begreifen. Am Schluss «sieht» man das Werk nicht einmal mehr und die Bevölkerung hat den Eindruck, – manchmal zu Unrecht – dass die öffentlichen Gelder nicht nach bestem Wissen und Gewissen eingesetzt werden.
Trotzdem: welcher Architekt, welcher Künstler, welcher Politiker hat nicht schon davon geträumt, Richtlinien zu erstellen wie sie uns durch die Antike, das Mittelalter, die Renaissance oder den Jugendstil vermacht wurden?
Welches sind die objektiven Gründe, die solche Neuschöpfungen heute so schwierig machen?
Ist es ein Gemeinplatz vom Materialismus unserer Zeit zu sprechen, in der das Streben nach Geld, nach materiellem Komfort, noch immer brutal die geistigen Werte dominiert? Hat die demokratisch gewählte Obrigkeit noch die Sensibilität und die Entscheidungsgewalt früherer Fürsten und bedeutender Mäzene? Haben die Architekten – durch die Mechanisierung der Produktionsmittel aus der Ordnung ihrer handwerklichen Gewohnheiten gebracht und durch den durch die Komplexität der technischen Installationen verursachten Arbeitsaufwand und durch die Verwaltung von Terminen und Finanzen und durch die immense Bautätigkeit dieser letzten 25 Jahre – noch die Zeit, den Willen und die Sensibilität, das Erbe der grossen Bauleiter der Vergangenheit anzutreten?
Wie steht es mit den Künstlern, die in dieser materialistischen Welt gezwungen wurden, sich in ihre eigene Welt zurückzuziehen, in der sie unbekannt und unglücklich oder steinreich und erfolgreich leben? Konnten sie etwas anderes machen, als zu berichten, dass es in dieser Welt nicht nur Autos, Fernsehapparate oder Coca Cola gibt, um so auf ihre Art die Zerstörung genau dieser Welt vorwegzunehmen? Kann man nicht dementsprechend das Werk von Tinguely, Dieter Roth und Beuys interpretieren?...
Hat selbst die Bevölkerung, die gezwungen wird in riesigen und unmenschlichen, chaotischen und monotonen, hässlichen und freudlosen Quartieren zu wohnen, vergessen, dass die Schönheit zu den erforderlichen Grössen jeder gebauten Umgebung gehört?
Für die Spekulanten, die Architekten, die Geschäftsleute und vereinzelte Künstler scheint das «goldene» Zeitalter beendet. Scheinbar erkennt man aber auch, dass dieser Zeitabschnitt des materiellen Überflusses eine der düstersten Epochen der Menschengeschichte darstellt–, wovon ein gigantisches Bauvolumen ohne Konzept zeugt, das in der Vergangenheit seinesgleichen sucht: ein hässliches und inhumanes Tragwerk in einem Ausmass, das jegliche Korrektur praktisch auf Generationen hinaus verunmöglicht… Während dieser Zeit, wurden die Bauwerke der Vergangenheit in einem unerhörten Tempo dem Erdboden gleichgemacht, ohne Rücksicht auf den definitiven unwiderruflichen Verlust, der das Verschwinden des unersetzlichen Vermächtnisses unserer Vorfahren darstellt…
Nach 15 Jahren kontinuierlicher Anstrengung und Information, erkennt man heute, dass man das Wasser, die Luft, die Erde, die Pflanzen und die Tiere schützen muss. Man spricht von Ökosystemen und ein Gesetz zum Umweltschutz ist auf eidgenössischer Ebene in der Projektphase. Indes, ist die Bevölkerung i sensibilisiert für die ebenso realen Probleme des irreversiblen Qualitätsverlusts unserer gebauten Umgebung?
Als einziger Architekt in der Expertenkommission, die durch den Bundesrat beauftragt wurde, ein Gesetz für den Umweltschutz auszuarbeiten, gelang es mir im Projekt –das ihm Vernehmlassungsverfahren hart umstritten war – ein Kapitel einzuführen, das den Schutz des Menschen über eine schlecht gebaute Umgebung stellt. Man wird sehen, was daraus wird...
Für mich war klar, dass eine qualitativ wertvolle, gebaute Umwelt nur mit Künstlern realisiert werden konnte, die durch ihre Beteiligung allein fähig sind, eine neue und wesentliche Dimension hineinzubringen. In Biel bot sich mir die Gelegenheit durch die gleichzeitige Erbauung von zwei Schulkomplexen, die Gewerbeschule der Stadt und die beiden Kantonalen Lehrerseminarien.
Zur selben Zeit – welch objektiver Zufall! – war ich, zusammen mit ein paar Freunden, vom Bieler Gemeinderat beauftragt, einen neuen künstlerischen Leiter der Schweizer Skulpturenausstellung als Nachfolger des Gründers Marcel Joray vorzuschlagen. Maurice Ziegler wurde aufgrund einer präsentierten Studie zum Thema Kunst im öffentlichen Raum gewählt. Die Studie sah vor, einige Bieler Gebäude als Pilotprojekte in der Zusammenarbeit mit Künstlern zu realisieren.
Maurice Ziegler wurde, aufgrund meines Vorschlags, für die beiden mir anvertrauten Schulen als künstlerischer Leiter bestimmt. Mit ihm zusammen wurden die Künstler ausgewählt, mit denen schliesslich die beiden Schulkomplexe realisiert wurden.
Die Erfahrung einer solchen Zusammenarbeit, so berauschend sie auch für einen Architekten und einen Künstler sein mag, ist mit zahlreichen und neuen Problemstellungen verbunden. Diejenigen, die einen solchen Weg gehen möchten, tun gut daran, diesen ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken…
Die Aufgabe wurde wie folgt festgelegt: eine gebaute Umgebung zu kreieren, in der die Kunstwerke sich in die Architektur integrieren oder mit ihr im Dialog stehen, sie beeinflussen und sie stellenweise transformieren; eine neue Atmosphäre zu schaffen, ein Klima, das den Besucher begleitet, ihn umgibt; neue Verbindungen zu knüpfen zwischen der Architektur und der Kunst punkto Einheitlichkeit des Materials und des Kontrastes. Offenbart die Konfrontation der beiden künstlerischen Ausdrucksformen nicht eine neue Dimension für die Lebenserfahrung des Besuchers oder Bewohners?
Dazu muss der Architekt, der in aller Regel der Welt und der Sprache des Künstlers verschlossen ist, den Dialog mit dem Künstler akzeptieren und ihn gewähren lassen, selbst wenn es darum geht, das umzuformen, was er als sein eigenes «unsterbliches» Werk erträumt hat. Diese Verwandlung geschieht nicht ohne Schmerz, denn es handelt sich nicht nur um die Hinzufügung eines dekorativen Elements, sondern um eine Art Neuschöpfung. Der Architekt muss auch zum Dialog fähig sein und den Ideen des Künstlers manchmal entgegenhalten: eine totale Hingabe dem Künstler gegenüber würde in der Tat ebenso sicher zum Desaster führen wie seine Verbannung in ein «punktuelles Ghetto». Es gibt strukturelle, bauliche, funktionelle, wirtschaftliche oder terminliche Problemstellungen, ohne von den Raumproblemen zu sprechen, zu denen der Architekt klar und oftmals imperativ Stellung nehmen muss.
Der Architekt muss auch akzeptieren, dass er für diese Zusammenarbeit viel Zeit aufzuwenden hat, und dass er sich bereit erklärt, seine Arbeitsstunden nicht nach den SIA Normen zu berechnen.
Im Gegenzug muss er verstehen, welch unersetzlichen Beitrag der Künstler zu seinem Werk leistet… Er muss spüren, inwiefern die Vision der Architektur durch die neuen vom Künstler eingebrachten Ideen bereichert wird, inwieweit das gemeinsame Werk an Qualität und an Tiefe gewinnt und die Bewohner oder die Besucher nachhaltige und dauerhafte Nutzniesser dieses so geschaffenen, lebendigen Klimas werden.
Eine solche Analyse sollte in enger Zusammenarbeit mit allen beteiligten Personen durchgeführt werden. Eine höchst effiziente Organisation der Entscheidungsebenen soll durch den Architekten auf die Beine gestellt werden, denn der Erfolg kann sich nur so auf neuen Wegen einstellen, wenn die Obrigkeit, die Baukommission, der Bauvorstand, die Kunstkommission, die kantonalen und städtischen Architekten, die Direktoren, die Lehrer und Schüler — ohne vom Tiefbauingenieur zu sprechen, von den Spezialisten, vom Gärtner und Handwerker –, der Künstler und der Architekt in eine Organisation eingebunden sind, die es erlaubt, dass alle Entscheidungen den allgemeinen Willen wirklich repräsentieren. Es geht dabei übrigens nicht nur um Entscheidungen, sondern auch um Information und dauerhafte Erziehung. Die Schwierigkeiten und die Zeit, die ein solcher Prozess mit sich bringt, sollen nicht unterschätzt werden.
Es ist auch wünschenswert, dass für jedes Objekt präzise Kostenvoranschläge aufgestellt werden, die eine klare Trennung vorsehen. Eine Trennung zwischen den Objekten oder dem Teil der Objekte, die zum Gebäude gehören und denjenigen, die über den Kunstkredit beglichen werden. Das Projekt muss finanziell existenzfähig und glaubwürdig sein. Diese Aufgabe sollte nicht unterschätzt werden, sie ist unabdingbar, genauso wie ihre ständige zeitliche Überwachung.
Alle Elemente, die ich eben erwähnt habe, zeigen sehr deutlich, dass der Architekt sehr früh mit dem Künstler in Kontakt treten sollte. Während des Projekts sollte der Künstler intervenieren können, auf dem Plan und im Modell. Noch vor der Erstellung des Kostenvoranschlags sollten die verschiedenen Elemente aufgestellt und berechnet sein. Wenn die Zusammenarbeit erst auf der Baustelle beginnt, sind zahlreiche, virtuell existierende Möglichkeiten bereits aus technischen, baulichen oder finanziellen Gründen verpasst.
Eine solche Studie offenbart auch den hohen Stellenwert des künstlerischen Beraters. Dieser soll fähig sein, die Welt und die Sprache des Künstlers zu verstehen, ebenso die Welt des Architekten und des Auftraggebers. Er soll das Projekt koordinieren und helfen, Probleme zu lösen, die sich zwischen den Beteiligten kontinuierlich stellen. Er soll derjenige sein, der es versteht, die Projekte den Behörden zu vermitteln und der das Projekt klar in Worten und Zahlen ausdrücken kann. Seine Funktion ist die eines Fachingenieurs, vergleichbar im Prinzip mit einem Heizungsingenieur.
Der Künstler wird sich mit dem Enthusiasmus eines Baumeisters (Demiurgen) in die neue Arbeit stürzen! Eine echte Herausforderung wird es sein, sich dem Architekten verständlich zu machen, da der Künstler es gewohnt ist, nur in seinem Atelier und allein zu arbeiten und dabei Werke zu produzieren, die er nur fertiggestellt preisgibt…Der Künstler wird eine neue Welt zwischen Konferenz und Kommission erleben, dabei im Stillen die abstrusesten Kritiken erdulden und sich mit technischen oder finanziellen, politischen oder menschlichen Problemen auseinandersetzen müssen. Nicht selten wird er gezwungen werden, ein Vorhaben, das sich bei Untersuchung als undurchführbar entpuppt, von vorn zu beginnen und Werke zu zeichnen, die von Handwerkern auf der Basis einer Pauschale ausgeführt werden… Und er braucht Geduld, sowohl in der Erarbeitung wie bei der Durchführung eines Projektes, da sich beides über mehrere Jahre erstrecken kann! Wird er während dieser Zeit nicht seinen Interessensschwerpunkt verlagern oder den Stil ändern? Wird er immer noch Lust haben, das, was er vor zwei Jahren konzipiert hat, umzusetzen? Zweifellos wird er sich darüber freuen, sich erneut direkt mit der Realität der gebauten Umwelt konfrontiert zu fühlen und im Schaltkreis menschlicher Beziehungen zu bewegen … Und ist es nicht positiv, dass die Öffentlichkeit in eine konkrete Aufgabe endlich alle diejenigen miteinbezieht, die sie so oft als unbedeutende Wesen, am Rand – um nicht zu sagen als überflüssig – betrachtet hat?
Welche Überraschung für den Auftraggeber, den Architekten und die Bewohner, während der Umsetzung zu entdecken, wieviel von den vorgesehenen Proportionen durch den Künstler auf der Grundlage von rudimentären Skizzen oder Modellen sich als richtig entpuppen und wieviel Potential die neugebaute Umgebung an Leben und Harmonie offenbart! Und das Erstaunen aller, festzustellen, welch unglaublicher Reichtum an Elementen durch den Künstler und den Architekten mit diesen mehr als bescheidenen Mitteln umgesetzt werden konnte... Dies ist nur möglich, wenn die im eigentlichen Bau inbegriffenen Elemente oder die Aussengestaltungen durch den Künstler durchgeführt werden, dessen Honorar als einziges dem Kredit für Kunstwerke untersteht.
Sehen wir in naher Zukunft, endlich den alten Traum von der «Integration der Künste» verwirklicht? Ich wünsche es mir, bleibe aber überzeugt, dass dafür das Volk seine Stimme erheben muss, um für sich endlich eine gebaute Umgebung zu fordern, die eines menschlichen und harmonischen Lebens würdig ist.
Alain G.Tschumi, Architekt dipl. FAS/SIA, Biel
Übersetzung Französisch-Deutsch © Béatrice Schmidt