TRANSFERT Kunst im urbanen Raum
Der Jogger, held des postmodernen Lebens
Frank Perrin
War die Stadt in ihrer klassischen Ausprägung das dauerhafte Gehäuse des Durchgangs, das Gefäß aller Fließbewegungen, so ist sie heute ihrerseits in die Idee des Durchgangs eingegangen. Nicht mehr die Stadt enthält den Durchgang, den sie in Bahnen zu lenken beauftragt war, vielmehr umfaßt die Idee des Durchgangs jene einer fortan grenzenlosen Stadt, für die der Transit konstitutiv geworden ist. Was sie beherbergen sollte, davon wurde sie am Ende überspült. Die Stadt erscheint zu dieser Jahrhundertwende als eine flottierende Datenmenge, und ihre Kartographie wandelt wie ein Shakespearesches Gespenst zwischen den Netzen und ihren Peripherien, zwischen ihren exponentiellen Vorstädten und ihren
Kommunikationsmengen.
«DER HIMMEL ÜBER DEM HAFEN HATTE DIE FARBE EINES FERNSEHERS, IN DEM EIN ABGESTELLTER SENDER LÄUFT» WILLIAM GIBSON, NEUROMANCIEN
Wir treten ein in die konstitutive Exzentrierung, in eine immer stärker gerasterte Realität, in der sämtliche Möglichkeiten des Zentralismus ans Ende gelangt sind.
Vorbei die kollektiven Freuden des öffentlichen Platzes, vorbei der Traum des 19. Jahrhunderts von Boulevards und Ramblas... Die Stadt als eigenes Gut ist uns verloren gegangen, sie ist verschwunden hinter der alleinigen Frage der Transporte und der Fließbewegungen. Wir leben nicht mehr in der Stadt, wir schleusen uns durch sie hindurch. Wir haben aufgehört, die Stadt zu bewohnen: Sie ist längst kein Wohnort mehr, sondern ausschließlich Verkehr, Zirkulation.
Willkommen in Connection City. Die Agora ist Kontrolltowern, und sämtliche einstigen Möglichkeiten des Zusammenwirkens sind Steuerungen aller Art gewichen. So wie Chicago das Labor für das urbane Amerika des 20. Jahrhunderts war, so erfindet heute Los Angeles für sich die ökonomischen Formen und kulturellen Praktiken für den künftigen Zuschnitt weltweiter Urbanität.
«FAUSTISCHER UMBAU DER WIRTSCHAFT, SOZIALE BRÜCHIGKEIT,
ANTISEMITISMUS DER ELITEN, VERBISSENE KONKURRENZ UM DIE ZENTRALEN LAGEN, ADMINISTRATIVE ZERSTÜCKELUNG UND AUSSCHLUSS DES POLITISCHEN AUS DER INNER CITY.» MIKE DAVIS, CITY OF QUARTZ. LOS ANGELES, HAUPTSTADT DER ZUKUNFT
Los Angeles im Jahre 00, Stadt von morgen, ohne Fußgänger, ohne Flaneur, ohne etwaige Abwege. Die stillen Magmen der Automobile haben die Straße leergefegt und den Flaneur enteignet. In diesem Umfeld neuer Verödung sind nur ein paar Jogger und seine übrigen Spielarten auf Rollen übergeblieben, um ein immer vakanteres Gebiet zu besetzen. Als Figur unvermuteten Standhaltens in einer immer weiter vorrückenden Wüste probt der Jogger mit jedem Laufschritt eine fortan unmögliche und paradoxe Zugehörigkeit. Mit einem Heroismus, dessen ganzer Horizont die vor ihm liegende Gerade ist, artikuliert er in seinem eigensinnigen Selbstgespräch ein fortan in sich geschlossenes Territorium: die Linie halten,
den Puls kontrollieren, den Kraftaufwand einpegeln, die Schritte fließen lassen, Bahnen finden, etwas zum Werden bringen.
«MAN MÜSSTE SEIN WIE EIN TAXI, WARTELINIE, FLUCHTLINIE, STAU, VERENGTE FAHRBAHN, GRÜNE UND ROTE AMPELN, LEICHTE PARANOIA, HEIKLES VERHÄLTNIS ZUR POLIZEI. EINE ABSTRAKTE UND GEBROCHENE LINIE, EIN ZICKZACK, DAS “DAZWISCHEN” SCHLÜPFT. GRAS IST GESCHWINDIGKEIT.» GILLES DELEUZE, DIALOGUES
Der Jogger, ein Surfer des Asphalts, ist in dieser avancierten Landschaft der letzte Mensch, der den Untergang oder die Abenddämmerung der Urbanität ankündigt und zugleich die neue Beziehung zur künftigen Stadt anzeigt. Diese joggende Verkündigung wiederholt er jeden morgen oder so oft er kann, in einer ewigen Wiederkehr, die in Echtzeit die Zugehörigkeit zur Tätigkeit, zum Körper, zur Arbeit und zur Stadt bekräftigt. Als solcher verkörpert der Jogger einsam und allein den lächerlichen Übermenschen der Städte von morgen...
Nach dem Baudelaireschen Flaneur, dem surrealistischen Streunen, dem Benjaminschen Passanten oder dem situationistischen Abschweifen ist der Jogger der einsame Held, der seit zwei Jahrzehnten das neue Verhältnis zur Stadt und ihrer Ökonomie am besten verkörpert.
Anfang der 1980er Jahre brach, in einer ganz bestimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Konfiguration, das Jogging- und das Aerobicfieber aus. Heute ist dieses Phänomen auf sein natürliches Ausmaß zurückgegangen, wirkt im Inoffiziellen und Spontanen, wie eine geheime Nation, ein Ad-hoc-Netzwerk. Wer läuft, tut es aus innerer Notwendigkeit und nicht mehr wegen der Mode. In Frankreich wird die Zahl derer, die mindestens eine Stunde pro Woche laufen, auf rund 2,1 Millionen geschätzt, in Europa auf nahezu 20 Millionen. Und weltweit knüpfen mehr als 100 Millionen regelmäßige Jogger außerhalb aller Verbände und ohne jeglichen Wettkampf, gleichsam in einer laut- und schriftlosen Religion, aus spontanem Antrieb ein starkes, geheimes Band zum Körper, zur Stadt und zur Arbeit. Als Widerstand ohne Botschaft, als letzter Spaziergänger der endenden Urbanität, als letzter Akteur in der Stadt des avancierten Kapitalismus ist der Jogger heute der Held des postmodernen Lebens.
«DER AUSDAUERSPORT JOGGING WIRD AUF STRECKEN VON MEHREREN KM AUSGEÜBT ; DABEI SOLLTE DER TAKT MÖGLICHST GLEICH BLEIBEN, WAS FÜR DEN JOGGER EINEN REGELMÄSSIGEN HERZ- UND SCHRITTRHYTHMUS BEDINGT.» AMBY BURFOOT, THE PRINCIPLES OF RUNNING
Fast wie bei einem Künstler kommt es darauf an, eine Linie, eine Verhaltensregel und einen geregelten Kraftaufwand einzuhalten, ein einfaches und doch paradoxales Ziel zu verfolgen. Als kryptische Kämpfer, die mit den Dilemmata von heute in Verbindung stehen, auf dem Drahtseil balancierend und außer Atem, arrangieren sich Jogger und Künstler sich je auf ihre Weise mit den gegebenen Umständen, um Fluchtlinien darin einzuschmuggeln.
Wir sind eine Generation, die sich weder in der Konfrontation noch in der subversiven Anverwandlung (‘détournement’) wiedererkennt, sondern eher in Ausweich- und Gleitmanövern jeder Form. Der Erfolg des Joggens in den 1980er wie die Wiederbelebung der Skateboards und Rollerblades in den 1990er Jahren weisen auf dieses neueste Verhältnis zur Urbanität hin. Der Jogger und seinesgleichen haben längst den Demonstranten und dessen Masse abgelöst, und die Kollektiven Auftritte auf Rollerblades ersetzen den kollektiven Spaß der Kundgebungen zum 1. Mai. Die Weise des Daseins in der Stadt und im Raum, die den einen als neuer Individualismus, den anderen als eingefleischtes Nomadentum gilt, ist ein Surfen auf dem Straßenbelag und hat fortan Züge eines Marathonlaufs. Weil der Kontext sich im Gleiten, im Streifen aneignen und zähmen läßt. Ohne Gegenüber, wie eine Liebkosung, die etwas hat, was Schläge nicht können, durchzieht der stille Jogger die Straßen und eignet sich wieder an, was wir verloren haben. Abseits der anbiedernden Trivialitäten, setzen der Künstler und der Jogger in einer Kombination aus Feinarbeit und ausdauerndem Kraftaufwand in der rhizomatischen Realität der Städte, Zeichen und Daten eine Arbeit in Gang, die letzten Endes schlicht auf langem Atem beruht. Der Jogger in seinen Laufschritten wie der Künstler in seinen Interventionen unterhalten jenes heimliche Verhältnis mit der Stadt von morgen: Nicht mehr sich mit der Stadt konfrontieren, sondern sich in sie infiltrieren.
Links: Brooks Stanwood, Jogging • Amby Burfoot, The Principles of Running • Holt David, Running Dialogue • Martin Heidegger, Holzwege • Karl Gottlob Schelle, Die Kunst des Spazierengehens • Marc Augé, L’impossible voyage • Guy Debord, Situationistische Internationale • Fukuyama, The End of History and the Last Man • Hakim Bey, TAZ, Frédéric Fournier, La beauté, la rue (Blocnotes 11) • Armelle Leturcq, Frank Perrin, Géographies transformatrices (Blocnotes 5) • Frank Perrin, Expanded Mix (Blocnotes 17) • Gilles Deleuze, Tausend Plateaus • Paul Virilio, Ereignislandschaft • Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der • Karl Gottlob Schelle, Die Kunst des Spazierengehens • Marc Augé, L’impossible voyage • Guy Debord, Situationistische Internationale • Fukuyama, The End of History and the Last Man • Hakim Bey, TAZ, Frédéric Fournier, La beauté, la rue (Blocnotes 11) • Armelle Leturcq, Frank Perrin, Géographies transformatrices (Blocnotes 5) • Frank Perrin, Expanded Mix (Blocnotes 17) • Gilles Deleuze, Tausend Plateaus • Paul Virilio, Ereignislandschaft • Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles.